Dieser Text ist entstanden, weil es guttut, Menschen zuzuhören, die wissen, wovon sie sprechen. Menschen, die nicht beschwichtigen, aber auch nicht alarmieren. Menschen, die zeigen, dass wir nicht ständig im Dunkeln tappen und unvorbereitet von einer Krise in die nächste stolpern müssen.
An diesem Nachmittag sitzen auf der Bühne keine Aktivisten und keine Stimmungsmacher. Es sind Expert:innen ihres Fachs. Eine, die beruflich nichts anderes tut, als mögliche Zukünfte durchzudenken, bevor sie eintreten. Und einer, der erklärt, wo die Grenzen liegen, die wir nicht überschreiten können – egal, wie sehr wir es uns wünschen. Zusammen vermitteln sie etwas Seltenes: das Gefühl, dass Zukunft planbar ist. Aber nur dann, wenn wir uns an Leitlinien halten. Und eine davon heißt Physik.
Ordnung heißt Vorbereitung
„Gefährdete Ordnungen“ klingt zunächst abstrakt. Tatsächlich beschreibt der Begriff etwas sehr Konkretes. Ordnung ist das, was unseren Alltag zusammenhält. Dass Strom aus der Steckdose kommt. Dass Lieferketten funktionieren. Dass Staaten berechenbar handeln. Dass Entscheidungen nachvollziehbar sind.
Dieses Gefühl von Ordnung gerät nicht deshalb ins Wanken, weil alles zusammenbricht, sondern weil sich vieles gleichzeitig verschiebt. Das Klima, geopolitische Machtverhältnisse, wirtschaftliche Abhängigkeiten. Keine dieser Entwicklungen wirkt isoliert. Sie greifen ineinander. Genau das macht sie schwer greifbar – und gefährlich für bestehende Strukturen.
Der Rahmen dieses Abends unterstreicht das. Das Berliner Ensemble, ein Ort politischer Geschichte, wird zur Bühne für eine öffentliche Diskussion. Keine geschlossene Veranstaltung, kein Expert:innenzirkel. Die Diskussion wird aufgezeichnet und ist später auf YouTube abrufbar. Ordnung, die hier verhandelt wird, soll sichtbar bleiben. Nachvollziehbar. Wiederholbar. Über den Abend hinaus.
Drei Perspektiven auf Zukunft
Auf der Bühne treffen drei Rollen aufeinander: politische Erfahrung, strategische Zukunftsvorausschau und Klimaphysik.
Florence Gaub ist Politologin, Zukunftsforscherin und Direktorin des NATO Defense College in Rom. Sie beschäftigt sich mit Sicherheitsfragen, strategischer Vorausschau und der Frage, wie Staaten mit Unsicherheit umgehen. Ihr Werkzeug sind Szenarien. Keine Vorhersagen, keine Glaskugeln, sondern strukturierte Möglichkeitsräume: Was wäre, wenn? – und vor allem: Was müssten wir heute tun, damit es nicht so kommt?
Genau diese Art des Denkens hätten wir früher und intensiver gebraucht. Pandemien waren kein unbekanntes Risiko. Fragile Lieferketten kein Geheimnis. Auch geopolitische Eskalationen wurden seit Jahren analysiert. Szenarien dazu existierten – sie wurden politisch nur zu oft ignoriert. Vorausschau funktioniert allerdings nur, wenn Entscheidungsträger bereit sind zuzuhören und entsprechend zu handeln.
Der Gegenentwurf ist bekannt: Politik aus dem Bauch heraus. Persönliche Einschätzungen statt Expertise. Warnungen werden ausgeblendet, weil sie unbequem sind. Geschichte zeigt, wohin das führt. Gaubs Arbeit steht damit für etwas Positives und Notwendiges: Zukunft nicht als Schicksal zu erleiden, sondern vorbereitet zu begegnen.
Anders Levermann bringt eine andere Perspektive ein. Der Physiker und Klimaforscher am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung beschäftigt sich mit komplexen Systemen, Kipppunkten und langfristigen Entwicklungen des Klimas. Seine Perspektive ist nicht politisch – genauso wenig wie die der anderen beiden auf der Bühne. Keiner vertritt an diesem Nachmittag eine politische Meinung. Auch der ehemalige Minister betont die Distanz zum tagespolitischen Handeln. Es geht nicht um Programme oder Parteien, sondern um Einordnung.
Zwischen Gestaltbarkeit und Grenze spannt sich der Denkraum dieses Nachmittags auf.
Habeck – Projektionsfläche einer Debatte
Robert Habeck ist dabei weniger Hauptfigur als Projektionsfläche. Für manche ist er ein rotes Tuch. Wärmepumpe, Energiepreise, Zumutungen der Transformation – all das wird mit ihm verbunden. Für andere steht er für den Versuch, Dinge auszusprechen, die lange verdrängt wurden.
Für diesen Text ist entscheidend, was er in den Raum stellt: Fragen. Was passiert, wenn wir nichts tun? Was passiert, wenn wir zu spät handeln? Und wer entscheidet eigentlich, was zumutbar ist? Diese Fragen verbinden die Themen des Abends und führen von einem Punkt zum nächsten.
Ordnungen zerbrechen nicht – sie verlieren Halt
Gesellschaften brechen selten an einem einzigen Ereignis. Sie verlieren Halt, wenn Belastungen dauerhaft werden. Wenn Ausnahmen zur Normalität werden. Wenn Krisen nicht mehr als Krisen wahrgenommen werden, sondern als Grundrauschen.
Der Klimawandel wirkt genau so. Jede Hitzewelle für sich erklärbar. Jede Dürre für sich verkraftbar. Doch in der Summe entsteht Stress – für Infrastruktur, für Landwirtschaft, für politische Systeme. Die entscheidende Frage lautet nicht, ob wir ein Problem haben, sondern wie lange unsere Ordnung diesen Dauerstress aushält.
Klimawandel ist Physik – und Physik diskutiert nicht
Klimawandel ist keine Meinungsfrage, sagt Levermann. Er ist das Ergebnis physikalischer Prozesse. Und diese Prozesse reagieren nicht auf Wahlprogramme oder politische Stimmungen.
Besonders tückisch ist die zeitliche Verzögerung. Was wir heute erleben, ist die Folge von Entscheidungen vor Jahrzehnten. Und was wir heute entscheiden, bestimmt die Lebensbedingungen kommender Generationen. Diese Logik passt schlecht zu politischer Realität – verschwindet aber nicht, nur weil man sie ignoriert.
Der menschliche Körper als Grenze – Indien und Europa
Physikalische Grenzen beginnen nicht bei Gletschern oder Küstenlinien. Sie beginnen beim menschlichen Körper.
Der Mensch kühlt sich über die Haut. Über Verdunstung. Doch dieses System funktioniert nur bis zu einer bestimmten Kombination aus Hitze und Luftfeuchtigkeit. Wird diese Grenze überschritten, kann der Körper keine Wärme mehr abgeben. Dann wird Hitze lebensgefährlich.
In Indien ist das bereits Realität. Millionen Menschen haben keinen Zugang zu klimatisierten Räumen. Hitzewellen führen dort nicht zu Unbehagen, sondern zu tausendfachen Todesfällen. Das ist kein Zukunftsszenario. Es passiert jetzt.
Und es ist längst vor unserer Haustür angekommen. Auch in Europa steigen hitzebedingte Todeszahlen. Nicht nur bei Hochbetagten. Auch bei körperlich arbeitenden Menschen, bei Kindern, bei Menschen ohne Rückzugsräume. Städte werden zu Wärmeinseln, Nächte kühlen nicht mehr ab. Der Körper bekommt keine Erholung.
Anpassung ist möglich – aber nicht grenzenlos.
Meeresspiegel – wenn Zahlen auf Beton treffen
Meeresspiegelanstieg klingt abstrakt, bis man ihn in Beton gießt. In Norddeutschland werden Deiche derzeit um rund 1,5 Meter erhöht – für Milliardenbeträge. Küstenschutz wird zur Dauerbaustelle.
Demgegenüber stehen die Zahlen der Klimaforschung: pro Grad Erwärmung langfristig zwei bis zweieinhalb Meter Meeresspiegelanstieg. Selbst bei ambitioniertem Klimaschutz mehrere Meter. Die Frage drängt sich auf: Wie oft können wir Deiche erhöhen? Und wie sinnvoll ist es, immer weiter aufzurüsten, wenn gleichzeitig Klimaziele aufgeweicht werden?
Anpassung ohne Vermeidung wird zum Fass ohne Boden.
Klimawandel und Konflikt – warum die Arktis plötzlich wichtig ist
Viele denken beim schmelzenden Eis zuerst an Eisbären und an klimatische Folge. Das ist zu kurz gegriffen. Wenn das Eis in der Arktis schmilzt, öffnen sich neue Schifffahrtswege. Strecken, die früher unpassierbar waren, werden wirtschaftlich interessant. Handelsrouten verkürzen sich. Rohstoffe werden zugänglich.
Wo neue Wege entstehen, entstehen Interessen. Wo Interessen entstehen, entstehen politische Ansprüche. Militärische Präsenz folgt oft schneller als diplomatische Regelwerke. Eis war jahrzehntelang eine natürliche Barriere. Jetzt verschwindet sie.
Der Klimawandel verändert damit nicht nur Wetter, sondern Machtverhältnisse. Wer Klima isoliert denkt, übersieht die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Folgen.
Geschichte als Warnsignal – Dürre als Beschleuniger
Klimawandel verursacht keine Revolutionen. Aber er verschiebt Bedingungen, unter denen Gesellschaften stabil bleiben.
Die Französische Revolution war nicht nur das Ergebnis von Aufklärung und sozialer Ungleichheit. Den Jahren vor 1789 gingen massive Ernteausfälle voraus, ausgelöst durch ungewöhnliche Wetterextreme, Dürreperioden und steigende Brotpreise. Hunger allein stürzt keine Ordnung. Aber Hunger in Kombination mit politischer Blockade wirkt wie ein Katalysator.
Ähnlich in Syrien. Die Jahre vor Ausbruch des Bürgerkriegs waren geprägt von einer der schwersten Dürren der Region. Landwirtschaftliche Existenzen brachen weg, Millionen Menschen zogen in Städte, die bereits unter politischer Repression und wirtschaftlicher Spannung litten. Die Dürre war nicht die Ursache – aber sie beschleunigte den Zerfall.
Klimawandel wirkt selten allein. Aber er erhöht die Fallhöhe.
Wie unser Gehirn auf Veränderung reagiert – und warum das verbindet
Neurowissenschaftliche Studien zeigen: Menschen gehen sehr unterschiedlich mit Unsicherheit um. Gehirnscans belegen, dass offene Zukunftsszenarien bei manchen Neugier auslösen, bei anderen Stress.
In den USA lässt sich das sogar politisch abbilden. Menschen mit geringer Unsicherheitstoleranz suchen klare, einfache Erzählungen – oft verbunden mit starken Identitäten wie MAGA. Andere kommen mit Ambivalenz besser zurecht und akzeptieren komplexere Erklärungen.
Das Entscheidende: Das ist keine moralische Frage. Es ist eine neurologische. Unterschiedliche Gehirne verarbeiten Veränderung unterschiedlich. Wer das ignoriert, spaltet. Wer es versteht, kann verbinden.
Zukunftspolitik muss Orientierung geben, ohne zu simplifizieren. Sicherheit bieten, ohne zu lügen. Und zeigen, dass Veränderung gestaltbar ist – innerhalb klarer Leitplanken.
Finnland – Ordnung durch Vorbereitung
Finnland zeigt, dass es anders geht. Seit den 1980er-Jahren ist Zukunftsvorsorge dort institutionell verankert. Ministerien verfügen über Zukunftskompetenz, das Parlament über einen eigenen Zukunftsausschuss. Szenarien sind Grundlage politischer Entscheidungen.
Politik versteht sich dort weniger als allwissend, sondern als managementfähig. Politiker:innen sind keine Expert:innen – sie müssen Expertise bündeln und umsetzen. Genau hier liegt der Unterschied.
Warum gelingt das in Finnland – und warum nicht in Deutschland oder Österreich? Warum werden Empfehlungen von Bürger:innenräten wie dem Klimarat in Österreich oft ignoriert, obwohl sie genau das liefern, was Demokratien brauchen: informierte Rückmeldungen aus der Bevölkerung?
Wenn Politik Management ist, dann ist Beratung Pflicht.
Innovation braucht Grenzen
Für manche ist der Emissionshandel eine Schikane der EU. Für Klimaphysiker wie Anders Levermann ist er die sachlich einfachste Lösung eines komplexen Problems.
Statt tausender Einzelregeln setzt er eine klare Obergrenze. Jahr für Jahr sinkend. Diese Grenze schafft Planungssicherheit. Sie zwingt Innovation nicht durch Verbote, sondern durch Knappheit. Ungewissheit wird kalkulierbar.
Nicht bequem. Aber wirksam.
Schluss – Gestaltbarkeit mit Verantwortung
Dieser Nachmittag bringt zwei Wahrheiten zusammen. Die erste: Zukunft ist gestaltbar. Die zweite: Es gibt Grenzen – physikalische, biologische, unverhandelbare.
Zwischen beiden liegt unsere Verantwortung. Ordnung entsteht nicht durch Beschwichtigung. Und nicht durch Panik. Sondern durch Vorbereitung, Wissen und den Mut, Expertise ernst zu nehmen.
Worauf wir hinarbeiten sollten:
Zuhören.
Vorausdenken.
Handeln.
Nicht aus Angst.
Sondern aus Verantwortung.
Zum Nachschauen auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=je1DwIDPdcE&t=2734s
